Annahmesperre für Rheuma-Neupatienten

Schleichend und unbemerkt hat sich die Praxisauslastung verändert. Normalerweise ist es so, dass die Wartezeit für Rheumapatienten um drei Monate ist. Eine Medikamentenschachtel egalwas hält 12 Wochen, die Laborabnahmen sind um 3 Monate Pflicht und es gibt eine Vorgabe, Rheumapatienten unter Basistherapie viermal jährlich anzusehen. So ist der Quartalsrhythmus fest in unseren Köpfen eingeprägt. Die Bestandspatienten nehmen den nächsten Termin in drei Monaten mit und was übrig bleibt, ist die Ressource für Neupatienten.

Das System ist schon instabil, denn jedes Jahr im Sommer gibt es drei Wochen Urlaub, die dann als Termin nicht zur Verfügung stehen und für weniger Neupatientenlücken im Herbst sorgen. Diese Jahr kommen die vielen Patienten dazu, die während der Hochzeiten von Covid-19 zu keinem Arzt gegangen sind, keine Medikamente genommen haben und ihre mittlerweile anderweitig besetzten Behandlungsplätze jetzt „selbstverständlich“ wiederhaben wollen.

Die Terminservicestelle schickt 2 Patienten pro Woche, das Notfallverfahren tut ein Übriges und der Patientenschwund durch Wegzug und Unzufriedenheit ist nicht so hoch, dass er Entlastung schafft. Jetzt liegen die nächsten Termine für die Bestandspatienten bei vier Monaten. Der maximal verordnungsfähige Medikamentenvorrat reicht damit nicht bis zum nächsten Termin, die Reaktionen reichen von Verständnis bis Wut. Die Mitarbeiterinnen sind noch genervter, als sie es durch die Lästigkeiten der Impfkampagne und des Maskentragens eh sind. Da wir unsere Kapazitäten nicht ausbauen können, ist eine Begrenzung der Termine für Neupatienten notwendig. So schimpfen nur Menschen mit uns, die wir noch nicht kennen. Das geht einem dann nicht ganz so nahe.
Das nächste Problem: Neupatienten mit einem Vorlauf über drei Monate erscheinen seltener, weil sie in der Zwischenzeit einen anderen Behandler gefunden haben.

Aus dem Kapazitätsproblem ergibt sich die nächste Frage: Gibt es zu wenig Rheumatologen?

Ich glaube nicht, dass es zu wenig Rheumatologen gibt. Es mag zu wenig Hausärzte geben, die dann nicht die Zeit haben, den Patienten zuzuhören, sie zu untersuchen, zu beraten, die Unterlagen zusammenzustellen und dann eine Überweisung zu schreiben. Das schlägt sich auf die Qualität der Zuweisungen nieder:

  • Zehn Prozent der hier vorgestellten Rheumasuchen haben einen leitliniengerechten Grund (erhöhte Entzündungswerte im Labor, warme Gelenkschwellungen, nächtliche, weckende Rückenschmerzen, eine Morgensteifigkeit von über einer Stunde, einen Nachtschweiß, eine Augeninnentzündung oder eine Familienanamnese mit Rheumatikern). 90 % der Rheumasuchen sollen „zur Abklärung“ zum Rheumatologen.
  • Sechzig Prozent, mehr als die Hälfte der Patienten, kommt ohne Unterlagen. Von den 15 Minuten, die für eine Erstvorstellung vorgesehen sind, vergehen dann eher 20 als 10 beim Zusammentelefonieren der Befunde. Selbst Patienten mit „Notfallzuweisungen“ und Code über die Terminservicestelle kommen oft ohne Unterlagen. Wenn alles zusammengesucht ist, finden sich hinter der Überweisung „Rheumasuche“ aktuelle und komplette Rheumaausschlüsse oder Klinikunterlagen, die das zu suchende Rheuma schon gesichert haben einschließlich Therapievorschlägen. Das nervt.
    Natürlich darf man sich als Patient eine Zweitmeinung einholen, auch wenn das streng genommen keine Kassenleistung ist und privat bezahlt werden müsste. Deshalb die Röntgenbilder (Strahlenschweinerei) oder das Labor (Kosten, Zeitverlust) neu machen darf man nicht.
    Natürlich kann man als Rheumapatient auch den Behandler wechseln. Aber dies ohne Papiere und ohne die Information „Rheuma bekannt“ als absichtlich als Suchspiel zu betreiben, ist ein guter Grund, den Patienten wegen gebrochenem Vertrauensverhältnis (Zurückhalten wesentlicher Informationen) nicht zu übernehmen oder beim geringsten Anlass hinauszusetzen.
  • Ein Fünftel der Patienten hat eine Überweisungsdiagnose, aus der hervorgeht, dass sich der Patient die Überweisung bei der Medizinischen Fachangestellten ohne konkreten Verdacht auf ein Rheuma geholt hat. „AWDP“ (auf Wunsch des Patienten), „zur Abklärung“ (Text zu Ende, nicht zur Abklärung von…),  „zur Verlaufskontrolle“ (eines noch nie gesehenen Menschen) und „fachfremde Erkrankung“ sind häufige Nonsenstexte. Der Patient kann wenig dafür. Als Arzt sollte man sich schämen, seine Unterschrift unter derartige Überweisungen zu setzen.
  • Eine besondere Freude sind Zuweisungen einer neuen Ausbildungsrichtung, des Facharztes für Orthopädie und Unfallchirurgie. 2005 wurde der Facharzt für Orthopädie abgeschafft und mit der chirurgischen Spezialisierung für Unfallheilkunde zu einem gemeinsamen Facharzt zusammengelegt. Die Kollegen sind sicher geschätzte Operateure und in ihrem Fach hochkompetent. Wenn ich als Überweisungsgrund „Verdacht auf Arthrose“ lese, dann fürchte ich, die nichtoperative und diagnostische Ausbildung musste deshalb zurückbleiben. Danach sehen zumindest die Überweisungstexte häufig aus.
  • Es gibt auch Zuweisungen von Hautärzten zur Suche nach Schuppenflechtenrheuma und von Augenärzten – zu 2/3 dieser Zuweisungen finden wir ein Rheuma – es geht also besser und deshalb sind wir da auch schneller bei der Terminfindung.

Es gibt zu viele medizinisch nicht begründbare, doppelte, dreifache und vierfache Rheumasuchen und damit eine Fehlauslastung der Rheumatologen. Deshalb wird immer wieder mal ein Programm nach dem anderen zur Verbesserung der Zuweisungsqualität aufgelegt, das eine Vorsortierung der dringenden Patienten bewirken soll.  Rheuma-VOR war hier ein löbliches Beispiel.

Als Konsequenz aus der verbesserungswürdigen Anfragenqualität haben wir

  • Ein Formblatt für eine Anmeldefax Rheumatologie. Wenn das ausgefüllt ist, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass der anfragende Arzt einen Termin erwirkt. Die Wahrscheinlichkeit steigt, wenn ein auffälliges Labor dabei ist.
    Es gibt eine Möglichkeit, wegen Fortsetzung einer Therapie nach Klinik oder bei Berentung des aktuellen Behandlers Termine zu bekommen. Unterlagen müssen dabei sein, denn wenn wir die Patienten eines ausgefallenen Kollegen als Hunderterpack ins vollgepackte laufende Programm übernehmen, dann ist eine Aktensuche nicht möglich. Die Situation hatten wir schon mehrfach.
  • die Möglichkeit, bei Frau Dr. Sensse eine Rheumasuche machen zu lassen. Sie ist keine Rheumatologin, arbeitet aber seit 2002 in einer rheumatologischen Praxis. Sie hat jetzt schon mindestens 10 Rheumasuchen am Tag. Wenn es Fragen gibt, reden wir intern miteinander. Die Möglichkeit, dann intern zu wechseln, gibt es aus medizinischen Gründen, aber nicht auf Wunsch. Die freie Arztwahl ist ein theoretisches Konzept, das durch die realen Kapazitäten begrenzt ist.
  • keine ausgewiesene Privatsprechstunde. Natürlich behandeln wir auch Privatpatienten. Alles andere wäre Diskriminierung. Eine bevorzugte Behandlung von irgendwem (Fussballer, Gamsener Prominenz, Youtuber und InfluencerInnen, Privatpatienten) verbietet sich, wenn man selbst das dringende Verfahren nicht immer bedienen kann.

Wenn das nicht reicht, sind wir nicht die richtige Praxis. Wir glauben an ein Leben nach dem Feierabend. Man muss es sich aber verdienen.

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